„Tuuut Tuuut!“ Laut und schrill tönt es durch den Slum in Tollyganj, wir schrecken zusammen. Ein Zug rattert wenige Meter entfernt an uns vorbei. Nicht sehr schnell, doch schnell genug, dass ein unachtsames Kind darunter geraten kann. Zwei Männer laufen auf den Gleisen, sie machen kurz Platz, warten bis der Zug vorbei ist, und gehen schließlich in Ruhe weiter. Alle 5 bis 10 Minuten kommt ein Zug. Die gesamte Böschung ist eng mit ein- bis zweistöckigen Häusern zugebaut, die direkt an die Bahngleise grenzen – ohne Zaun oder Lärmschutz. Schmale steile Gassen schlängeln sich durch die Häuserzeilen. Eine Frau wartet neben einem Wasserhahn ohne fließend Wasser, um sie herum sind alle möglichen Behälter zum Wasseraufbewahren aufgereiht. Seit einigen Jahren gibt es hier im unauthorized settlement öffentlich zugängliche Wasserhähne, aber Wasser gibt es täglich nur für wenige Stunden, in denen alle Behälter aufgefüllt werden müssen, sonst hat die Familie kein Wasser für diesen Tag.
Gemeinsam mit den Mitarbeiterinnen unseres Partners Lake Gardens Women and Children Development Centre besuchen wir die Umgebung, in der die Kinder leben, die in die von der Indienhilfe finanzierte Kinderkrippe Colibri gehen. Mit beklemmendem Gefühl laufen wir durch die engen steilen Gassen entlang der Schienen, um einen Eindruck ihrer Lebensbedingungen zu bekommen. Vorsichtig spähen wir durch die offene Tür einer „Wohnung“: ein Raum von ca. 8 qm, darin ein erhöhtes großes Bett, unter dem Küchenutensilien und andere Gegenstände gelagert werden, an den Wänden hängt die Kleidung, weitere Möbel gibt es nicht – dies ist das Zuhause einer Familie mit mehreren Kindern. Gekocht wird vor der Tür auf der schmalen Gasse. Wir fragen uns: wo finden alle Familienmitglieder auf dem einen Bett Platz? Wo wird gekocht, wenn es regnet? Und was macht die Familie, die darüber im 2. Stock wohnt? Wo findet sie noch Platz auf der schmalen Gasse? Wo fließen die Regenmassen während des Monsuns hin? Und wo kann man sich zurückziehen, wenn man mal seine Ruhe braucht? Wo haben die Kinder Platz zum Spielen? Und wo machen sie ihre Hausaufgaben? Die Enge wirkt auf uns bedrückend, aber es ist eine beliebte Wohngegend für ärmere Familien, die auf der Suche nach Arbeit vom Land nach Kolkata kommen. Viele Frauen arbeiten als Hausangestellte in den umliegenden Wohngegenden der Mittelschicht, Männer verdienen oft als Tagelöhner oder Riksha-Fahrer ihr Geld. Leider führen häufig Alkohol, Drogen, Glücksspiel und Arbeitslosigkeit meist der Männer zu häuslicher Gewalt, unter der die Kinder und Frauen besonders leiden.
Wir gehen weiter zur Krippe Colibri, die mitten im Slum liegt. In einem kleinen hellen Raum, an den Wänden bunte Plakate und Lernpläne, sitzen 16 Kleinkinder im Kreis und essen. Die Betreuerinnen verteilen die Mahlzeit und unterstützen, wo nötig. Im Moment werden täglich 65 Kinder im Alter von 1 bis 5 Jahren in den drei Krippen von Lake Gardens betreut, gefördert und mit warmem nahrhaftem Mittagessen versorgt. Der Bedarf an Kinderbetreuung ist hier sehr hoch, damit die Mütter ihrer Arbeit nachgehen können, ohne sich um die Sicherheit ihrer Kinder sorgen zu müssen, die unbeaufsichtigt schnell an den Bahngleisen verunglücken können. Auch die Vorschularbeit ist wichtiger Bestandteil des Krippenalltags, um die Kinder, deren Eltern oft Analphabeten sind, auf die Einschulung vorzubereiten und ihnen den Übergang in die Schule zu erleichtern.
Spielende Kinder in der Krippe von Lake Gardens
Neben der direkten Arbeit mit den Kindern hat Lake Gardens auch die Situation der gesamten Familie im Blick: in Gruppensitzungen und einzelnen Gesprächen mit den Müttern, aber auch Vätern und Ehemännern, werden drängende Themen wie häusliche Gewalt, Gesundheit, Familienplanung, Ernährung, Kinderrechte und Missbrauch angesprochen und dafür sensibilisiert. Auch wenn die Probleme in den Familien oft ähnlich liegen, braucht es doch sehr viel individuelle Unterstützung und Begleitung, um die Denkweise und die kritischen Lebenssituationen im Einzelfall zu verbessern. Seit diesem Jahr arbeitet Lake Gardens verstärkt an der Vernetzung der Frauen mit Arbeitsagenturen, potenziellen Arbeitgebern und Trainingszentren, um ihnen Zugang zu besseren Einkommensmöglichkeiten zu verschaffen. Denn neben der Stärkung des Selbstbewusstseins ist insbesondere die finanzielle Unabhängigkeit der Frauen wichtig. Auch die Väter der Krippenkinder sollen in diesem Jahr verstärkt angesprochen und bei den Elternabenden einbezogen werden, damit auch sie sich ihrer Verantwortung für die Kinder stellen und zum Wohl der Familie beitragen.
Inmitten der bedrückenden Enge des Slums mit Lärm, Dreck und Gewalt ist die Colibri-Krippe von Lake Gardens wie eine Oase, ein Rückzugsort, in dem die Kinder geschützt und sicher spielen und lernen, sich frei entwickeln können, in dem ihre Bedürfnisse und ihr Wohlergehen im Vordergrund stehen. So wird hoffentlich der Grundstein für ihre Zukunft, für ein Leben ohne Armut, gelegt! Wir danken allen SpenderInnen, die unser Krippenprojekt mit Lake Gardens schon seit vielen Jahren unterstützen.
Kosten 2023/24: ca. 38.000 € – ca. 580 €/Kind
Stichwort: Kinderkrippen